Das Forschungsgebiet der Stadtsoziologie wurde mit Georg Simmel (1858-1918) in Berlin zur Jahrhundertwende im 20. Jahrhundert begründet. Seine Schriften und punktierten Beobachtungen übten dabei einen maßgeblichen Einfluss auf die Reflexionen verschiedener Soziologen und Urbanisten des 20. und 21. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika aus.
Georg Simmel: der Begründer der Stadtsoziologie
Georg Simmel gilt als wichtigster Vertreter der Stadtsoziologie und Mitbegründer der Soziologie. 1858 wurde er in eine Berliner Kaufmannsfamilie geboren. Im Laufe seines Lebens war er an verschiedenen Universitäten tätig. Zunächst nur als Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms Universität für Philosophie und Soziologie angestellt, folgte schlussendlich eine unbezahlte Professur an der Berliner Universität (1900), ein Ehrendoktorat an der Universität Freiburg (1911) sowie gegen Ende seines Lebens ein Lehrstuhl an der Kaiser-Wilhelm Universität in Straßburg (1914).
Seine Schriften „Philosophie des Geldes“ (1900), „Die Großstadt und das Geistesleben“ (1903) und „Über räumliche Projektionen sozialer Formen“ (1908) legten den Grundstein für weitreichende Überlegungen zur Beziehung des Menschen zur Stadt und seinem Platz in ebendieser. Ihm zufolge war die Geldwirtschaft, welche sich in großen Metropolen ansiedelte, entscheidend für das rasche Städtewachstum und die früh- bis spätindustrielle Stadtgesellschaft. Aber auch die Bedeutung von Stadtgesellschaft und Stadt als Phänomen gehörten zu seinem Forschungsgebiet. Doch vor allem mit seiner Schrift „Die Großstadt und das Geistesleben“ (1903) schuf er das Fundament für eine soziologische Betrachtungsweise auf Urbanität, welche die erlebte städtische Daseinswelt, den städtischen Raum und die Stadtgesellschaft als Dimension miteinbezog.
Somit wurde er zum Pioneer dieses Forschungsgebiets. 2005 wurde in Berlin zu seinen Ehren das Georg Simmel Zentrum für Metropolenforschung (GSZ) an der Humboldt-Universität gegründet. Er verstarb 1918 in Straßburg.
Metropole Stadtentwicklung Stadt und Mensch Stadt und Umwelt Stark urbanisiert Öffentlicher Raum
Womit befasst sich die Stadtsoziologie?
Die Stadtsoziologie bietet soziologische Betrachtungen auf die Stadt und den Mensch. Als Teilbereich der Soziologie befasst sie sich mit den Handlungen von Akteuren in Form von Individuen, Gruppen, sozialen Schichten und der Stadtgesellschaft. Untersucht werden die Beziehungen zwischen städtischen Formen, Strukturen, Entwicklungen und deren Rahmenbedingungen.
Als ein gesamtheitlicher Ansatz („holistisch„) betrachtet die Stadtsoziologie dabei das Phänomen Stadt aus verschiedenen Perspektiven. Im Vordergrund der Betrachtungen stehen der Mensch (Anthropologie), das Stadtgeschehen, die Gesellschaft, sowie die zusammenhängenden Bereiche Wirtschaft, Politik und Kultur, aber auch die Infrastruktur, Architektur.
Die moderne Stadtforschung und das Zeitalter der urbanen Räume
Neben philosophischen Einflüssen steht die Stadtsoziologie vor allem auch in enger Verbindung zur Raumsoziologie und dem „Zeitalters des Raumes„, wie es der französische Philosoph Michel Foucault in seinem Aufsatz „Andere Räume“ treffend formulierte. Darin definiert er den Raum in seinem Dreisatz aus: der räumlichen Praxis, die Raumrepräsentationen und die Repräsentationsräume.
Der zeitgenössischen Stadtsoziologin Martina Löw zufolge betrifft dies dabei gesellschaftliche Handlungsabläufe der Menschen eines Raumes, die Strukturbildungen durch die gesellschaftliche Strukturierung von Handlungsprozessen und Sinnprojektionen, welche kodiert, ihren Sinn durch die Handlung offenbaren. Gemeinsame Überschneidungen zwischen der Stadt- und Raumtheorie finden sich der Soziologin zufolge in der Identifikation, den räumlichen Anordnungen und den raumbezogenen Unterscheidungen.
Die Beziehung des Menschen zur Stadt steht somit in enger Verbindung mit seinem urbanen und geistigen Raum, welcher sich dynamisch aus den Beziehungen der Akteure, der Umgebung und deren Gegenstände ergibt. Die Stadt wird somit zu einem sozialen Interaktionsraum, den es zu erfassen gilt. Georg Simmel’s Überlegungen legten dabei ein wichtiges Fundament zur Auseinandersetzung mit Städten als Gesellschaftsräume und weit darüber hinaus.
Die Großstadterfahrung von Simmel als Fundament der Stadtsoziologie
Zu dieser Zeit stellte er bereits fest, dass das Leben in der Großstadt und die einhergehende Großstadterfahrung aus einem Zwischenspiel aus äußeren und inneren Eindrücken besteht. Die „Steigerung des Nervenlebens“ spiegelt sich dabei nach Simmel in zwei für Großstädter typischen Merkmalen. Zum einen überkommt dem Bürger die „Blasiertheit“, eine Abstumpfung gegenüber den äußeren Sinnes- und Wahrnehmungsreizen der städtischen Umgebung. Diese entsteht durch eine sensorische Reizüberflutung, welche aus dem sich aussetzen von Reizen im öffentlichen Raum besteht.
Stadtsoziologie: Simmels Anonymität von Städten und der Verlust von Identität
Zum anderen besitzt die Großstadt gesellschaftlich betrachtet eine charakteristische Anonymität. Diese steht in Verbindung zu Simmels Begriff der „Reserviertheit“, welche er als eine Sozialisierungsform versteht. Durch die Verdünnung klar einheitlicher Sozialnormen wird eine Unabhängigkeit geschaffen, welche den Großstadtbewohnern eine individuelle Freiheit ermöglicht.
„Grüßt man in der Kleinstadt beim Spaziergehen noch entgegenkommende Passanten, so läuft man in der Großsstadt – von Reizen überflutet – mit gesenktem Blick durch die Straßen. Doch erhält man Blicke bezüglich der Kleidungswahl, so gehen sie in den tausenden anderen zuvor gekreuzten Blicken unter.„
Simmels Aktualität in der Soziologie und Stadtforschung
Im Kontext der heutigen globalen Städte übersetzt sich dies im Kosmopolitismus. Dieser spiegelt sich dabei im andauernden kosmopolitischen Geltungsdrang der Großstädter wider. Simmel stellt dies dabei in einen diametralen Gegensatz zum Harmoniestreben und Gesellschaftsdruck von Kleinstädten.
Die Industrialisierung und einhergehende Arbeitsteilung führten dabei zu einem Weltschmerz, in welcher der Verlust der Individualität durch die Standardisierung des Alltags in den Fabriken, bei den Stadtbewohnern das Gefühl von Verlorenheit erzeugte. Ein Phänomen, mit welchem sich die deutschen Expressionisten in den Thematiken des Großstadtlebens und der Ich-Dissoziation befassten.
Ein Denker kommt selten allein! Die Frau an der Seite von Georg Simmel
Hervorzuheben ist dabei auch das Schaffen seiner Ehefrau, Gertrude Simmel (1864-1938). Die gelernte Zeichenlehrerin, die in Paris studierte, widmete sich im späteren Verlauf ihres Lebens der Philosophie. Unter dem Pseudonym „Marie Luise Enckendorff“ veröffentlichte sie ab 1906 ihre Schrift „Vom Sein und vom Haben der Seele“. 1910 folgte „Realität und Gesetzlichkeit im Geschlechtsleben“, welche sich mit der Emanzipation der Frau in der Ehe befasste. Sie forderte, dass Frauen sich selbstbestimmt und ohne Anpassungszwang zu ihrem Ehemann entwickeln dürfen. Im Laufe ihres Lebens wohnte sie dabei in Berlin und anschließend bis zum Tode ihres Mannes Georg Simmel in Straßburg. Danach lebte sie in Gera und Jena im Osten Deutschlands. In Freundschaft mit dem Philosophen Martin Buber veröffentlichte sie auch weiterhin Schriften in seiner Zeitschrift „Kreatur“.
Weitere Literaturquellen:
Georg Simmel, „Die Großstadt und das Geistesleben“, 1903
Georg Simmel, „Die Philosophie des Geldes“, 1900
Georg simmel, „Über räumliche Projektionen sozialer Formen“, 1908
Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, 1967
M. Löw / S. Steets / S. Stoetzer, „Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie“, 2008
Georg Simmel Zentrum für Metropolenforschung, Berlin